Wohngruppenzuschlag nach § 38a SGB XI oft abgelehnt

Es klingt paradox: Eigentlich wollte der Gesetzgeber mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) von Ende 2012 die ambulant betreuten Wohngemeinschaften stärken. Deshalb wurde extra ein besonderer monatlicher Zuschlag nach § 38a SGB XI  eingeführt (seit 1.1.2017 monatlich 214 Euro), den die Bewohner von Senioren-WGs bzw. Demenz-WGs für die Organisation und Betreuung und anfangs auch für die Pflege einsetzen konnten, sofern eine Person als sog. Präsenzkraft in der WG tätig ist, die dort gemeinschaftlichen Aufgaben für die Bewohner übernimmt. Zudem gibt es seit dem PNG eine gesetzliche Anschubfinanzierung nach § 45e SGB XI in Höhe von 30 Millionen Euro und auch verbesserte Förderung nach § 40 Abs. 4 SGB XI von Umbaumaßnahmen für bis zu 10.000 Euro pro WG. Weiterhin wurden 10 Millionen Euro für die wissenschaftlich gestützte Weiterentwicklung und Förderung neuer Wohnformen im § 45f SGB XI vorgesehen.

Auch die Bundesländer wollen die ambulanten Wohngemeinschaften fördern und haben diese in ihren Landesheimgesetzen mit speziellen Vorschriften umfassend berücksichtigt - mit wesentlich geringeren behördlichen Anforderungen als bei normalen Pflegeheimen. Häufig erfolgt nur eine Prüfung, ob eine WG vorliegt und kein Pflegeheim.

Insbesondere der WG-Zuschlag nach § 38a SGB XI wird jedoch von einigen Pflegekassen zunehmend verweigert. Die typischen Ablehnungsgründe sind regelmäßig, dass keine Präsenzkraft von den Bewohnern direkt beauftragt ist, sondern nur eine Vereinbarung mit dem Pflegedienst darüber getroffen ist, der die Person dann für die WG abstellt. Aber welche Wohngemeinschaft will schon selbst als faktischer Arbeitgeber haften und bei Ausfällen eine Vertretung organisieren müssen? Auch die Präsenzkräfte wollen dort nicht als Arbeitnehmer beschäftigt sein. Ebenso wird behauptet, dass es sich durch die vom Pflegedienst in der WG angebotenen Leistungen um eine quasi vollstationäre Versorgung wie im Heim handele. Der Gesetzgeber hatte hier mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz (PSG I) auf Druck der Pflegekassen zum 1.1.2015 eine gesetzliche Verschärfung eingeführt, wonach bei solchen Konstellationen dann der WG-Zuschlag ausgeschlossen ist (§ 38a Abs. 1 Nr. 4 SGB XI). Tatsächlich wird von vielen Pflegediensten, die WGs betreuen, ein umfangreiches Angebot vorgehalten - genauso wie bei allein lebenden Pflegebedürftigen. Der wesentliche Unterschied zu Pflegeheimen ist aber, dass die einzelnen Pflege-, Betreuungs- und Hauswirtschaftsleistungen nur nach Wahl der WG-Bewohner abgerufen und bezahlt werden müssen, was im Pflegeheim nicht geht. Die Verträge für Vermietung und Pflege sind rechtlich getrennt und können auch getrennt gekündigt werden, so dass die WG-Bewohner sich theoretisch auch einen anderen Pflegedienst suchen können, falls sie unzufrieden sind. Auch wird regelmäßig keine 24stündige Anwesenheit von Pflegefachkräften vertraglich zugesagt, wie es nach den Rahmenverträgen für die vollstationäre Pflege und der Heimpersonalverordnung Pflicht ist. Daneben wird von den Pflegekassen oft unterstellt, der WG-Zuschlag sei nur in von Senioren selbst organisierten Wohngruppen möglich, aber nicht in von Trägern wie einem Pflegedienst organisierten WGs. Das Bundessozialgericht hat sich im Urteil vom 18.2.2016 (Az.  B 3 P 5/14 R) aber bereits anders geäußert. Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz wurde zudem ab 1.1.2017 eine weitere Beschränkung für die Kombination mit dem Besuch einer Tagespflegeeinrichtung im § 38a Abs. 1 Satz 2 SGB XI eingeführt, weil ein entsprechender Bedarf in Wohngruppen regelmäßig nicht gegeben sei. Das Gegenteil kann nur durch einen speziellen Nachweis gegenüber dem MDK erbracht werden. Dabei ist klar, dass spätestens mit der Herausnahme der individuellen Pflege aus den Aufgaben der Präsenzkraft mit dem PSG I ab 2015 gar keine pflegerischen Leistungen für einzelne Bewohner durch die Präsenzkraft mehr erbracht werden dürfen. Daher kann auch der Bedarf für Tagespflege-Leistungen regelmäßig in WGs nicht von der Präsenzkraft abgedeckt sein. All diese Verschärfungen führten zu einer erheblichen Verkomplizierung der Beantragung und Durchsetzung des WG-Zuschlags, was gerade für die pflegebedürftigen Bewohner und Angehörigen eine große Hürde ist. Leider haben auch einige Sozialgerichte diese strengen Anforderungen bestätigt.

Hintergrund der zwischenzeitlichen Verweigerung des § 38a-Zuschlages durch die Pflegekassen dürfte vor allem ihre Befürchtung vor einer schleichenden "Ambulantisierung" der stationären Pflege sein, d.h. dem Trend von Heimen zu ambulanten Pflege-WGs, welche ähnliche Strukturen wie kleine Heime aufweisen, aber in denen trotzdem eine ambulante Leistungserbringung erfolgt - einschließlich der nicht gedeckelten Finanzierungsverpflichtung der Krankenkassen für die medizinische Behandlungspflege. Diese Kostensteigerungen für die Krankenkassen wollen sie unbedingt vermeiden und darum "kämpfen" sie teilweise verbissen gegen jede einzelne WG. Die Ablehnung des WG-Zuschlages ist da ein willkommenes Mittel. Teilweise werden dann auch schon einmal die häusliche Krankenpflege-Leistungen nach § 37 SGB V abgelehnt, weil keine "eigene Häuslichkeit" vorliege, sondern ein stationäres Heim. Damit steht das WG-Projekt dann schnell auf der Kippe.

Der Bundesgesetzgeber sollte hier dringend nachbessern, wenn er es ernst meint mit der Förderung ambulanter Wohngemeinschaften. Pflegedienste und WG-Vermieter müssen sich gleichwohl auf die aktuelle Sach- und Interessenlage einstellen und ihre Verträge und tatsächlichen Leistungsangebote möglichst "wasserdicht" gestalten, damit die Bewohner den WG-Zuschlag erhalten können.  Eingehende Beratung durch einen erfahrenen Rechtsanwalt ist hier dringend zu empfehlen.


Update: Siehe die aktuellen Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 10.09.2020 zum WG-Zuschlag: hier